Niederkaina – 22. April 1945
Ein stilles Dorf, nordöstlich von Bautzen.
Ein Ort wie tausend andere – und doch wird er an diesem Tag zu einem Symbol des namenlosen Sterbens in den letzten Atemzügen eines untergehenden Reiches.
In der Scheune des Gutes von Lobenstein haben sich fast 200 Volkssturmmänner zur Nacht niedergelassen.
Gefangengenommen, entwaffnet, erschöpft – aber am Leben.
Das schwere Scheunentor ist verriegelt, der rückwärtige Ausgang verbarrikadiert.
Draußen, auf dem Hof: junge polnische Soldaten, Kommandiert von einem Sergeanten der 1. Ukrainischen Front.
Sie bewachen die Männer, kochen über einem Feuer ihre spärliche Mahlzeit.
Die Nacht senkt sich über Niederkaina – und mit ihr die Hoffnung.
Drinnen sitzen Männer, viele kaum älter als Jungen, andere Väter, Brüder, Nachbarn.
Für sie ist der Krieg vorbei.
Nach zwei oder drei Monaten im Dienst der Heimat, schlecht bewaffnet, kaum ausgebildet, haben sie sich ergeben.
Nahe dem „Gelben Elend“ – der Strafanstalt von Bautzen – kapitulierten sie, unfähig, dem Ansturm der sowjetischen Truppen standzuhalten.
Sie sind keine fanatischen Kämpfer.
Sie sind einfache Männer, aufgeboten in den letzten Zügen des Krieges.
Ihr Widerstand war ihnen Pflicht, ein letztes Aufbäumen gegen das, was man den „Bolschewismus“ nannte.
Jetzt hoffen sie.
Einige flüstern:
„Sibirien bleibt uns erspart.“
Sie glauben an das Menschliche im Feind.
Sie glauben, dass das Schlimmste vorbei ist.
Doch draußen wandelt sich das Schlachtfeld.
Deutsche Verbände haben den Gegner fast eingeschlossen.
Panik greift um sich in den Reihen der Rotarmisten.
Und Gefangene?
Sie sind nun eine Last. Eine Gefahr. Ein Problem.
Dann – das Knattern eines Krads auf dem Hof.
Ein sowjetischer Offizier springt ab, ruft in scharfen Tönen Befehle.
Ein Finger zeigt auf das Feuer.
Die Wachen bereiten sich zum Aufbruch vor.
Unruhe breitet sich aus, auch drinnen in der Scheune.
Geschützdonner grollt von fern – das Echo einer nahenden Entscheidung.
Plötzlich: Rauch.
Zuerst dünn, dann beißend.
Dann ein Knistern, das sich ins Heu frisst.
Flammen lecken durch das Stroh.
Ein brennender Benzinkanister fliegt durch das Giebelfenster.
Panik. Entsetzen. Atemnot.
Die Männer drängen zur Rückseite, wo noch kein Feuer wütet.
Einer zerrt einen Balken heran, andere greifen zu.
Sie stemmen sich gegen das Tor.
Mit letzter Kraft sprengen sie es auf.
Einige treten ins Freie –
und werden von Maschinenpistolensalven niedergemäht.
Der Flucht folgt der Tod.
Das Dach steht in Flammen.
Die Schreie – entsetzlich, tierhaft – verhallen in der Glut.
Binnen Minuten ist alles vorbei.
Nur zwei Männer überleben das Massaker.
Die übrigen verbrennen.
Unkenntlich. Ungesühnt. Unvergessen.
Keine Namen.
Keine Erkennungsmarken.
Keine Gräber.
⸻
So geschah es – oder so könnte es geschehen sein – in jenen letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs,
in denen die Menschlichkeit an unzähligen Orten in Rauch aufging.
Niederkaina steht für viele dieser Orte.
Ein Dorf, eine Scheune, fast zweihundert Männer –
ein Akt der Vernichtung, im Schatten des Zusammenbruchs.
⸻
Unzählige Kriegshandlungen, zermürbende Kampftage, ungesühnte Verbrechen.
Überfüllte Städte, Flüchtlingsströme, brennende Dörfer.
So war der Alltag in den Endzügen eines Krieges,
der keine Sieger kannte –
nur Verwundete, Tote und schweigende Trümmer.
Niederkaina ist ihr stummer Zeuge.
Und wir –
sind ihre Stimme.
Vergessen wir sie nicht!